Zauberhafte Handgeschichten

Leseprobe 01

Die Wohlfühlzauberbank 07

„Ja, doch, eines Nachts landete sogar eine Eule auf der Fensterbank meines offenen Schlafzimmerfensters. Sie flog dann zu Beginn der Morgendämmerung wieder davon. Ich fragte mich damals, was sie wohl gesucht haben mochte.“ „Sicher hat sie dir eine Botschaft übermittelt“, sagt das Mädchen bedeutungsvoll. „Was für eine Botschaft meinst du?“, will ich nun wissen. „Vielleicht, dass du eines Tages eine Nothelferin im Waldreich sein sollst. Du bist ja jetzt hier. Das ist dann doch logisch, oder?“ „ Ich weiß nicht“, sage ich. „Zu Hause, dort, wo ich geboren bin, gab es früher Schleiereulen, die in unserer alten Scheune nisteten.“ “Ja“, sagt das Mädchen, „das waren bestimmt Verwandte unserer weisen Eule.“ Sie ist sich anscheinend völlig sicher. Sie kommt mir sowieso etwas merkwürdig vor. Ich frage mich, woher sie das von Kimjackin wissen kann. Das ist doch mein Erlebnis. Und mit einem Mal fällt es mir wieder ein, dass ich mich ja in der unsichtbaren 

Annelie Staudt: Zauberhafte Handgeschichten

1. Auflage, Dezember 2019

Softcover, A5

104 Seiten

ISBN 978-3-943313-15-4

Annelie Hansen: Zauberhafte Handgeschichten

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Welt befinde. Wir gehen weiter und weiter. Der schmale Pfad führt auf eine große Lichtung. Fast traue ich meinen eigenen Augen nicht. Da steht eine ganze Siedlung kleiner Häuser in einem Rund um einen freien Platz. „Was ist das?“, frage ich. „Das ist das Dorf der kleinen Waldmenschen im Reich des Zauberbaumes. Komm jetzt erst einmal näher, wir beißen nicht. Du vermutest vielleicht, dass ich ein kleines Kind bin, aber ich bin eine Frau, die drei kleine Kinder und einen lieben Mann hat, der Waldhüter ist. Komm ruhig mit, wir haben wirklich schon lange auf dich gewartet.“ Der Dorfplatz ist von vielen kleineren Menschen bevölkert, die mich mit einem Lied begrüßen. Die Melodie ist die gleiche, die ich im Wald schon gehört habe, als ich der kleinen Frau begegnet bin. Alle Blicke richten sich jetzt auf sie und mich, aber niemand fürchtet sich vor meiner riesigen Gestalt, obwohl ich doppelt so groß wie sie bin. Die kleine Frau führt mich direkt zum umgestürzten Baum, der den Brunnen verdeckt, wobei uns die gesamte Dorfbevölkerung folgt. Ich kann den Brunnen wegen des umgestürzten Baumes erst gar nicht sehen. Für die Menschen des Dorfes ist es ein großer Baum, für mich jedoch nicht. Als ich näher an den Brunnen herantrete, kann ich durch die Zweige hindurch dann deutlich den Brunnenrand sehen. Ich versuche, den Baum vom Brunnen herunter zu ziehen, indem ich an zwei dickeren Zweigen ziehe. Die Zweige aber brechen und ich kippe hintenüber ins weiche Laub, die Beine in die Höhe. Alle fangen an zu lachen und ich lache mit. Als ich mich wieder aufgerappelt habe, schauen wieder alle gespannt auf mich. Ob es mir wohl dieses Mal gelingen wird, den Baum zu bewegen? Mit beiden Händen umfasse ich nun den Stamm und ziehe ihn schließlich mit aller Kraft vom Brunnen herunter. Die Dorfbewohner jubeln vor Freude! Sie klatschen in die Hände! Ihr Brunnen ist nun endlich wieder frei. Um den Baum noch weiter vom Brunnenplatz wegzuziehen, an eine Stelle, wo er nicht im Wege liegt, packen dann alle großen und kleinen Waldmenschen mit an. Die Kinder des Dorfes freuen sich jetzt über den prima Spielplatz und klettern in den Zweigen des umgestürzten Baum umher. Alle Anwesenden werden dann jedoch aufgerufen, sich um den Brunnen herum zu versammeln. Wir nehmen uns alle bei den Händen und feiern die Befreiung des Brunnens. Es ist eine Feier mit Gesang, Tanzen, Lachen und Frohsinn. Jetzt braucht niemand mehr zum weit entfernten Weiher zu gehen, um Wasser zu holen. Als die Feier schließlich endet, stecken alle Kleinen die Köpfe zusammen und tuscheln leise miteinander. Ich kann nicht verstehen, was sie da miteinander bereden. Die kleine Frau, sie scheint das Oberhaupt des Dorfes zu sein, kommt dann zu mir, um mir mitzuteilen, dass die Bewohner eine Überraschung für mich haben. Gemeinsam hätten sie beschlossen, mir das streng gehütete Geheimnis anzuvertrauen, warum die kleinen Menschen nicht von den großen Erdenbewohnern entdeckt werden können. Dazu muss ich jedoch versprechen, es keinem Großen in der sichtbaren Welt zu verraten. Mit der rechten Hand auf dem Herzen gebe ich mein Versprechen, nicht mit Großen über dieses Geheimnis zu reden. „Also, höre gut zu“, sagt sie, „unser Geheimnis ist ein Zauberlichtbaum, ein Wunderbaum sozusagen, in dem wir verschwinden können, wenn uns Gefahr droht. Es ist ein Baum mit besonderen Eigenschaften. Unsere weise Eule, von der ich dir erzählt habe, ist unsere Schutzpatronin. Sie informiert uns, wenn wir in Gefahr sind, von Großmenschen entdeckt zu werden. Alle Einwohner, ob Groß oder Klein, müssen sich bei Gefahr an unserem Überlebensbaum sammeln, um gemeinsam zu verschwinden.“ „Aber wie kann man denn in einem Baum verschwinden“, frage ich, doch sie lässt sich nicht unterbrechen. „Sobald der letzte Waldbewohner im Baum verschwunden ist, wird das ganze Dorf samt allem Drum und Dran für die Großmenschen unsichtbar, die diesen Teil des Waldes aufsuchen. Die Großmenschen sehen dann nur eine Lichtung im Wald.“ Ernst fügt sie hinzu: „Sollten uns die Großmenschen jemals entdecken, wäre es vorbei mit unserem Frieden in diesem geheimen Wald. Die Großmenschen aus deiner Welt würden uns fangen und wie die Tiere im Zoo ausstellen. Ja, sie würden uns als Sensation verkaufen, weil sie ein so kleines Volk noch nie gesehen haben. Unser Dorf würden sie sogar einzäunen und bewachen, um dann Eintrittsgeld zu verlangen, damit man uns besichtigen kann. Sie würden keine Rücksicht auf unsere Menschenwürde nehmen. Deshalb darf uns niemand aus deiner Welt je zu sehen bekommen!“ Und noch ernster sagt sie dann: „Wenn auch nur ein einziger von uns in Gefangenschaft geriete, könnten wir alle nicht mehr unsichtbar werden, weil das nur geht, wenn alle dabei sind. Es ist für uns kleinen Menschen sehr wichtig, dass wir unseren Zauberlichtbaum haben.“
Und dann erklärt sie: „Du, die Geschichtenschreiberin, kannst uns deshalb sehen, weil du ebenfalls unsichtbar für die Außenwelt und in unserer unsichtbaren Welt zu Gast bist. Du bekamst die Erlaubnis, uns mit dem Brunnen behilflich zu sein. Die Eule kundschaftete aus, dass man dir vertrauen könne, ohne Gefahr für unser Volk. Du hast alle Anforderungen erfüllt, die für unsere Sicherheit wichtig sind. So kam es, dass wir keinerlei Furcht vor dir hatten als ich dich mit in unser Dorf nahm. Die Eule, die du damals von der Fensterbank deines Schlafzimmers wegfliegen sahst, war also unsere weise Eule. Sie hatte dich gebeten, uns zu helfen, und zwar als du noch halb schliefst.“ Ich frage mich, warum sie mir all das erzählt, wenn es doch ein so überlebenswichtiges Geheimnis ist, und ich will sie gerade danach fragen, als sie sagt: „Obwohl du unser Geheimnis jetzt kennst, würden wir es doch gerne sehen, dass du unsere Geschichte aufschreibst, verschlüsselt natürlich, so dass niemand herausfinden kann, wo wir tatsächlich leben. Für die Kinder und für die Erwachsenen der Außenwelt ist es nämlich sehr wichtig, an solche Phänomene zu glauben. Wenn sie deine Geschichte lesen, dann leben sie während dieser Zeit in ihrer Phantasie und können dadurch alle ihre Sorgen vergessen, sich wieder freuen, lachen und nachher wieder entspannter ins Leben gehen.“ Dann schweigt sie, und ich bin überwältigt von ihrem Vertrauen und auch davon, dass sie mir zutrauen, ihre Geschichte in einem Buch niederzuschreiben. Ich nehme ihre kleine Hand und schaue ihr tief in die Augen. „Ich danke euch von ganzem Herzen für so viel Vertrauen“, sage ich. Dann führen sie mich geradewegs zu einem anderen Baum, der sogar in meinen Augen enorm groß ist. In einzigartiger Weise ragt sein Stamm gerade in den Himmel hinein, wobei sich nach allen Seiten kraftvolle Zweige erstrecken, die sich selbst mit einem hellgrünen Blätterdach krönen. Wunderbar ist das anzusehen und mir fehlen fast die Worte. Solch einen prächtigen Baum habe ich noch nie zuvor gesehen. Ich staune in dieser anderen Welt und denke, das kann nur der König der Bäume sein. Die kleine Frau tippt mich an, damit ich wieder auf sie blicke und sagt dann: „Jetzt will ich dir das Geheimnis unseres Volkes zeigen.“ [...] (mehr)